Schiffsrekonstruktion auf der Museumswerft
Die Rekonstruktion archäologischer Schiffsfunde ist ein zentraler Bereich der Forschungs- und Vermittlungsarbeit des Wikingerschiffmuseums. Wir bezeichnen die Arbeit als „experimentelle Archäologie“ – nicht, weil sie von Archäologen ausgeführt wird, sondern weil diese Bezeichnung eine Aussage über den grundsätzlichen Inhalt und die Intention der Arbeit enthält: Wir betrachten einen Schiffsfund als Quelle für umfassendes und komplexes kulturhistorisches Wissen. Wir sehen es als unsere Aufgabe an, so viel von diesem Wissen wie möglich herauszulesen, um mehr Wissen über die jeweilige Schiffkonstruktion und die Segeleigenschaften zu erlangen und eine Reihe kulturhistorischer Probleme in Hinsicht auf den Zusammenhang zwischen Schiffsfunden aus der Wikingerzeit und der Gesellschaft zu beleuchten. Die Rekonstruktion und Prüfung im vollem Umfang fließen deshalb ideal als Elemente in die Gesamtanalyse eines Schiffsfundes ein.
Die Arbeit nimmt ihren Ausgangspunkt immer in der Vorstellung, dass jedes Schiff ursprünglich in einem komplexen Zusammenspiel zwischen Menschen unterschiedlicher Kompetenzen und Blickwinkel in Bezug auf das Schiff geschaffen und gebaut wurde. Diese Menschen haben unterschiedliche Spuren am Schiff hinterlassen – einige sehr konkrete wie z. B. Werkzeugspuren, die als Primärquellen von der Hand des Bootsbauers hinterlassen wurden. Andere sind abstrakter – wie die Form und der Charakter des Schiffs, der uns über die Funktion, das Fahrwasser, die Wünsche des „Bauherrn“ und die Intentionen Aufschluss geben können, die der Bootsbauer für die Segeleigenschaften des Schiffs hatte. Darüber hinaus kann das Schiff über die damalige Schiffstechnologie und die Materialverwendung und das –verständnis berichten. Und das kann Anlass zu Erwägungen zu Zeitverbrauch, Ressourcen, Organisation etc. sein.
Keiner ist in der Lage, all diese Informationen alleine abzulesen. Für das Auslesen eines Schiffsfunds ist deshalb die Zusammenarbeit zwischen Menschen unterschiedlicher Kompetenzen, Erfahrungen und Blickwinkel erforderlich. Die Untersuchungsmethode muss ständig von einem breit gefächerten Arbeitsteam weiterentwickelt und verfeinert werden, das gemeinsam ein umfassendes und viel verschiedenartigeres Quellenmaterial behandeln kann. Mit dem Ganzen vor Augen kann zu einer langen Reihe Problemstellungen Stellung genommen werden. Der Prozess und die Fragen, die in seinem Verlauf aufgeworfen werden, haben Bedeutung für die Analyse.
Es ist ganz klar, dass die Dinge nicht zwangsläufig so oder so gelegen haben – nur weil dies machbar ist. Und es ist selbstverständlich, dass es sich bei der Arbeit nicht darum dreht, eine Antwort oder Lösung zu finden, sondern Hypothesen aufzustellen und mögliche Antworten einzukreisen. Die Ergebnisse, die im experimentellen archäologischen Prozess erhalten werden, können nicht mit naturwissenschaftlichen Messungen verglichen werden, die mit Hilfe von Versuchsanordnungen durchgeführt werden, die im Prinzip unendlich unter kontrollierten Bedingungen fortgesetzt werden können. Das schiffsarchäologische Experiment ist so kompliziert und so von gegenseitigen Zusammenhängen geprägt, dass es nicht möglich ist, einen einzelnen Faktor auf diese Weise zu auszuwählen, zu isolieren und zu analysieren, wie dies im Versuchslabor möglich ist. Immerhin kann die segelnde Konstruktion als eine große Versuchsanordnung angesehen werden, die unmittelbar Rückmeldung zu allen Details liefert, wenn einzelne Bestandteile „herausfallen“ oder erweisen, dass sie nicht im Ganzen funktionieren. Das kann das Einschnappen eines Scharniers sein, Nagellöcher, die in einem bestimmten Bereich des Schiffs auffallend verschlissen sind, ein Mast, der nicht richtig mit der Rigg zusammenarbeitet usw.
Wenn die Ergebnisse von kulturhistorischem Wert sein sollen, müssen sie unter realistischen Bedingungen erzielt werden. Das heißt in der Praxis, dass Testsegelfahrten mit den sich konstant verändernden Elementen der Natur durchgeführt werden müssen – Wind, Strömung und Meer. Gleichzeitig spielt der menschliche Faktor hinein – können wir uns mit dem damaligen Wissen und den Fertigkeiten messen? Mit diesen Problemstellungen vor Augen muss mit dem Blick auf das Ganze gearbeitet werden, und derselbe Versuch muss viele Male unter veränderten Bedingungen wiederholt werden, um Durchschnittswerte z. B. für Fahr- und Kreuzeigenschaften zu ergeben.
Das konkrete Produkt, die Rekonstruktion, kann mit einer historischen Wiederherstellung verglichen werden. Sie repräsentiert nicht die Wahrheit darüber, wie das Original oder die Wirklichkeit in allen Details ausgesehen haben, erzeugt jedoch ein Bild als Katalysator und Werkzeug für einen Prozess, in dem sich neue Problemstellungen und neue Zusammenhänge ergeben, die uns erlauben, das Quellenmaterial mit neuen Augen zu sehen und zu deuten.